Bahnhofspersonenwaage Modell K
Autor: Angelo Triolo
Datierung: Zwischen 1925 und 1930
Material: Gusseisen, Glas, Emaille, Porzellan
Maße: 206 cm hoch, 63 cm breit und 84 cm tief
Hersteller und Herstellungsort: Seitz-Werke GmbH in Bad Kreuznach
Inventarnummer: 2015-0566
Gesellschaftliche Bedeutung von Personenwaagen im 20. Jahrhundert
Wie auch viele andere Haushaltsgeräte von heute waren Personenwaagen für einzelne Familien im frühen 20. Jahrhundert unerschwinglich. Das Interesse am eigenen Gewicht existierte allerdings bereits. Deshalb sahen einige Geschäftsleute hier ihre Chance: Sie stellten öffentliche Wiegeautomaten auf. Da das Gewicht für viele ein sensibles Thema war, wurde das Kartensystem eingeführt, bei dem das Gewicht auf eine kleine Karte gedruckt wird. Auf den Karten der ausgestellten Waage wird das Gewicht in Pfund angegeben. Die Einheit Pfund wurde 1884 abgeschafft und sogar verboten. Da die meisten Menschen allerdings auch noch im 20. Jahrhundert in Pfund rechneten und ein Pfund 500 Gramm entspricht, wurde das Verbot durch die Gewichtsangabe in „Halben Kilos“ umgangen.
Geschichte dieser Waage
Dieser Wiegeautomat vom Modell K wurde von den Seitz-Werken speziell für den Einsatz an öffentlichen Plätzen gebaut. Das Modell K wurde ab 1925 produziert. Die ausgestellte Waage stand ursprünglich in Dorum, einer kleinen Ortschaft zwischen Bremerhaven und Cuxhaven. 1985 kündigte die Deutsche Bundesbahn nahezu alle Mietplätze von solchen Wiegeautomaten, da die Bahnhöfe moderner auftreten sollten. Der Waagensammler Ludwig Wieprecht aus Ellerhoop erkannte seine Chance und rettete so viele Waagen wie er konnte vor der Verschrottung. Für damals 150 D-Mark kaufte er die Personenwaage aus Dorum. Danach hatte sie ihren ersten Auftritt bei einer Sonderausstellung im electrum – Museum der Elektrizität in Hamburg. Nach einer kurzen Pause in einem Lagerhaus kam die Waage im Januar 2006 als Leihgabe ins Industriemuseum Elmshorn und kann seitdem von den Besucher*innen ausprobiert werden.
Die Waage von außen und innen
Das Modell K zeichnet sich durch einen quadratischen Körper mit Glaskuppel und einem Achteck als Wiegefläche aus. Durch die Glaskuppel können die Nutzer*innen einen Blick auf die Technik der Waage werfen. Hier ist die Technik in Aktion zu sehen. Frontal auf dem Automaten zeigt eine Gewichtstabelle an, wie viel ein gesunder Mensch wiegen sollte. Diese Tabelle sagt viel über die Gesellschaft der 1920er Jahre aus: Wenn man die Werte in heutige BMI-Rechner eingibt, fällt auf, dass die Werte für Männer im normalen Bereich liegen, aber die Werte für Frauen alle knapp am Untergewicht kratzen. Ebenfalls fällt auf, dass früher die Menschen im Durchschnitt kleiner waren, da die Tabelle bei Männern z.B. nur bis maximal 1,84 m reicht.
Viele Automaten dieser Zeit waren das Ziel von Trickbetrügern, die mit Falschgeld um das Bezahlen herumkommen wollten. Deshalb hat der Automat einen für die damalige Zeit sehr modernen Münzprüfer. Ein Motor mit 1/60 PS betreibt die Elektrik. Eine Kilowattstunde reicht für 27.800 Wiegevorgänge. Zum Vergleich: Eine Handyakkuladung umfasst ca. 10 Wattstunden und würde für 278 Wiegevorgänge reichen. Um den Profit zu erhöhen, wurde das Gewicht auf standardisierte Pappfahrkarten, die sog. Edmondsonschen Fahrkarten gedruckt.
Die Seitz-Werke
Die Kreuznacher Maschinenfabrik Seitz-Werke GmbH wurde am 02.12.1887 gegründet. Ursprünglich war sie ein Weinkommissionsgeschäft, allerdings fokussierte sich die Firma schnell auf Filteranlagen und erweiterte ihr Portfolio auch auf andere Maschinen. Damals waren die Seitz-Werke bekannt für ihre Präzision, Qualität und ihre innovative Kaltsterilabfüllung. So erschlossen sie 1906 auch den Personenwaagen-Markt. Das Hauptgeschäft bestand allerdings weiter aus Filter- und Abfüllanlagen.
Ab 1982 fusionierten mehrere Firmen, unter anderem auch die Seitz-Werke, zur KHS AG. Das „S“ von KHS deutet noch auf den Namen Seitz hin. Die heutige KHS GmbH ist durch die Salzgitter Klöckner-Werke GmbH ebenfalls Teil der Salzgitter AG und einer der weltweit führenden Unternehmen in der Verpackungs- und Abfüllindustrie.
Zukunft der öffentlichen Waagen
Heute besitzt fast jeder Haushalt eine Digitalwaage – das große Zeitalter der öffentlichen Wiegeautomaten nahezu vorbei. Der Trend bewegt sich immer weiter in Richtung Smartwaagen. Dennoch erzählen uns historische Waagen viel über die Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts. Der Waagensammler Ludwig Wieprecht plant, in Zukunft ein Waagenmuseum zu eröffnen, um noch mehr solcher spannenden Relikte für die Zukunft zu bewahren.
Neugierig geworden? Die Bahnhofswaage steht im 1. OG des Industriemuseums und kann für nur 20 Cent ausprobiert werden. Dafür erhält man genau wie früher sein Gewicht in halben Kilos auf einer Edmondsonschen Fahrkarte.