Drahtesel auf Sprungfedern
Der Monat Juni stand auch im Industriemuseum Elmshorn im Zeichen der bundesweiten Aktion Stadtradeln. Gemeinsam trat das Team für ein besseres Klima in die Pedale. Doch im Industriemuseum wird nicht nur selbst geradelt, es werden auch Objekte zur Geschichte des Fahrrads ausgestellt und in der Sammlung aufbewahrt. Darunter befindet sich auch dieses spannende Rad aus dem Jahr 1919, dem auf der Tour niemals die Luft ausging. Wie heutige Fahrräder handelt es sich um ein Niederrad mit gleich großem Vorder- und Hinterrad und Kettenantrieb, der über die Pedale in Gang gesetzt wird. Von den Pedalen sind als Zeugen der spartanischen Ausstattung nur Reste vorhanden, die Kette hat sich nicht erhalten. Anstatt eines Sattels ist der Rahmen an der entsprechenden Stelle mit Stoff umwickelt. Neben dem fehlenden Sattel fällt jedoch vor allem sofort die abenteuerlich anmutende Bereifung auf: Statt Gummireifen sind Spiralfedern aus Eisen auf die Radfelgen aufgezogen. Ein Drahtesel auf Sprungfedern?
Not macht erfinderisch
Das Objekt des Monats Juni führt uns damit direkt in die Nachkriegszeit nach dem Ersten Weltkrieg. Wie auch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war sie von Entbehrungen und Mangel geprägt. Wichtige Rohstoffe und Güter waren knapp, bis dahin als selbstverständlich geltende Alltagsgegenstände wurden zu gehüteten Besitztümern. Mit Notbehelfen, Erfindungsreichtum und der Verwendung alternativer Materialien entstand auf individueller wie industrieller Ebene Ersatz für zahlreiche Alltagsprodukte – so auch für die schon 1919 längst zur Standardausrüstung gehörenden Gummireifen beim Fahrrad. Bereits während des Krieges geriet deren Produktion ins Stocken: Wie viele als kriegswichtig eingestuften Rohstoffe wurde auch Kautschuk vorrangig für militärische Zwecke verarbeitet, etwa für die Gummibereifung von Militärfahrzeugen. Für die Herstellung von Gummischläuchen für die luftgefüllten Fahrradreifen fehlte damit der wesentliche Bestandteil und Radhersteller boten stattdessen Notbereifungen an. Neben Ersatzmänteln aus eisernen Spiralfedern wie bei diesem Rad aus dem Industriemuseum waren auch Stahlblech- und Holzreifen verbreitet. Solcherart umgerüstete Fahrräder waren nicht nur auf den Straßen der Städte unterwegs, auch im bereits damals überaus beliebten Radrennsport griffen Sportler auf sie zurück. Dieses Phänomen der Notmäntel für Radreifen, das sich im Zuge des Zweiten Weltkrieges wiederholen sollte, zeigt, welche wesentliche Bedeutung das Fahrrad als individuelles Fortbewegungsmittel bereits zur Zeit des Ersten Weltkrieges erlangt hatte.
Vom Laufrad zum Massenverkehrsmittel
Diese Bedeutung des Fahrrads als Alltagsgegenstand breiterer Bevölkerungsgruppen war in den Anfängen seiner Geschichte im 19. Jahrhundert noch nicht abzusehen. Aus den ersten Entwicklungen lenkbarer Laufräder aus Holz zu Beginn des Jahrhunderts entstanden in den 1860er Jahren Räder mit einem Tretkurbelantrieb am Vorderrad. Solche Tretkurbelräder waren vereinzelt auch in Elmshorn und Umgebung zu sehen. Auf der Jagd nach immer höheren Geschwindigkeiten erhielten die Fahrräder zunehmend größere Vorderräder und erforderten als eiserne Hochräder Kraft und Geschick ihrer Lenker. In Elmshorn konnten sie zum Beispiel in der Fahrradhandlung Hauschildt in der Königstraße erworben werden. Trotz der hohen Unfallgefahr auf den schlechten Straßen entwickelten sich die Hochräder zu einem beliebten Sport- und Prestigeobjekt der männlichen Oberschicht. Erste Radrennen und Gründungen von Radfahrvereinen gab es bereits seit den späten 1860er Jahren. Zum Durchbruch verhalfen dem Fahrrad aber schließlich wesentliche Entwicklungen seit den 1880er Jahren: Mit dem Modell des Niederrades mit Kettenantrieb und der Erfindung luftgefüllter Gummischläuche als Bereifung entstand eine sicherere und leichter zu beherrschende Version des Fahrrads. Zugleich verbesserten sich die Straßenverhältnisse und der Übergang zur Massenproduktion in Fabriken machte das Fahrrad für breitere Bevölkerungskreise erschwinglich. Auch Arbeiter nutzten nun das neue Fortbewegungsmittel und gründeten um 1900 erste eigene Radfahrvereine. Bis dahin waren sie wie im 1887 gegründeten Elmshorner Radverein von diesen bürgerlichen Zusammenschlüssen ausgeschlossen gewesen – ebenso wie Frauen, für die Radfahren im 19. Jahrhundert als verpönt galt. Mit dem Bau von Damenrädern ohne Querstange, die das Fahren auch mit langen Röcken ermöglichten, erhielten jedoch auch sie Zugang zu dieser Art der Fortbewegung. Das Fahrrad stieg so ab der Jahrhundertwende zum ersten individuellen Massenverkehrsmittel auf und wurde für viele zu einem wesentlichen Alltagsgegenstand – gerade auch in Mangelzeiten wie Kriegs- und Nachkriegsjahren.
Ein Besuch im Industriemuseum Elmshorn zeigt im 1. Obergeschoss anschaulich verschiedene Fahrräder und Bereifungen. Neben dem Objekt des Monats sind dort auch ein Tretkurbelrad mit Reifen aus Holz und Eisen, ein Hochrad mit Vollgummibereifung sowie ein Niederrad mit luftgefülltem Gummimantel zu sehen.
Inventarnummer: A-0140
Datierung: 1919
Material: Eisen
Maße: L 159 cm x H 91 cm, Raddurchmesser 61 cm
Hersteller: unbekannt
Standort: Industriemuseum Elmshorn, Magazin